(zettel (meta (author "Detlef Stern") (box-number "1") (created "20170627163826") (modified "20231122164332") (published "20231122164332") (role "post") (syntax "zmk") (tags "#transfer") (title "Gastbeitrag bei \"Agile Verwaltung\"") (visibility "public")) (rights 4) (encoding "") (content "Vor einiger Zeit wurde ich von [[Thomas Michl|https://tomsgedankenblog.social/]] gefragt, ob ich nicht einen einführenden Blogpost über das Agile Studieren im [[Forum Agile Verwaltung|https://agile-verwaltung.org/]] (FAV) schreiben möchte.\nDas habe ich gerne [[getan|https://agile-verwaltung.org/2017/03/30/agiles-studieren/]] und stelle ihn hier (dank der CC-Lizenz) in Kopie bereit.\n\n=== Studieren ist auch Lernen\nLernen ist ein komplexer Vorgang, der besonders von Rückmeldungen profitiert.\nOhne Rückmeldung weiß ich nicht, ob ich etwas angemessen \"\"richtig\"\" erlernt habe oder ob ich mich gerade in eine dem Lernziel unangemessene, \"\"falsche\"\" Richtung bewege.\nAuch wenn Lernen etwas Individuelles ist, so profitiert man von der Gruppe, in der man sich befindet.\nDurch eine Gruppe erhalte ich Rückmeldungen und kann selbst Rückmeldungen geben, vertiefe also das Gelernte.\n\nEine Lerngruppe bietet nicht nur Vorteile.\nDas Lerntempo der Gruppenmitglieder kann sich unterscheiden.\nEine Gruppenmeinung kann individuelle Meinungen unterdrücken.\nGruppenarbeit kann zeitaufwändig sein.\nTrotzdem lernen wir meistens in unserer Gruppe, sei es in einer Familie, in einer Klasse oder in einem anderen organisatorischen Umfeld.\n\nDas Lernen im Studium folgt diesem Muster weniger.\nIn Vorlesungen wird, über einen Zeitraum von 3--4 Monaten verteilt, der Lernstoff dargeboten.\nStudierende versuchen dies aufzunehmen, aber erst nach Ende der Vorlesungszeit wird dies überprüft.\nEin \"\"fehlerhaftes\"\" Lernen wird also erst spät erkannt und kann ggf. nur langwierig korrigiert werden.\n\nIch als Professor kann ebenfalls erst zu spät erkennen, ob und in welchem Umfang meine Vorlesungen auf Resonanz stoßen.\nEine Frage der Art \"\"Haben Sie alles verstanden?\"\" reicht niemals aus.\nAuch ich entdecke erst bei den Prüfungen, was ich hätte detaillierter erklären sollen.\nUnd man glaube nicht, dass die Studierenden in jedem Semester ähnliche Probleme beim Lernen hätten.\n\nIn einer Vorlesung bestimme ich mindestens zwei Aspekte des Lernens: ich definiere, was gelernt werden soll und ich gebe ein zeitliches Raster vor.\nEine (klassische) Vorlesung mag auf den ersten Blick ökonomisch sein.\nEine Person erzählt und die anderen hören zu, mehr oder minder.\nDabei werden aber die wichtigsten Grundsätze des Lernens verletzt: kaum Rückmeldungen, fremdes Lerntempo, fremdbestimmte Lernreihenfolge, wenig Lernen in einer Gruppe.\n\nSchon länger wird versucht, diese Defizite zu umgehen.\nBetreute Übungsgruppen bieten schnellere Rückmeldungen und das Lernen in der Gruppe.\nDer Verzicht von Massenvorlesungen erlaubt einen \"\"seminaristischen\"\" Stil, bei dem in die Vorlesung Übungseinheiten integriert werden und Rückfragen der Studierenden möglich sind.\nHier können Gruppen gebildet und Rückmeldungen gegeben werden, aber schüchterne Studierende kommen zu kurz.\n[[Inverted Classroom|https://www.e-teaching.org/lehrszenarien/vorlesung/inverted_classroom]] lässt Freiheiten beim Lerntempo und ermöglicht angemessene Rückmeldungen, gibt aber wenig Unterstützung fürs Gruppenlernen.\nAllen Versuchen ist gemein, dass die Lernreihenfolge vorgegeben ist.\n\n=== Ziel des Studierens\nDoch was soll ein Studium leisten?\nUnstrittig ist sicher die Fähigkeit zum selbständigen, kritischem Denken.\nWie wäre es mit \"\"Kompetenzen zur selbständigen Planung und Bearbeitung umfassender fachlicher Aufgabenstellungen in einem komplexen, spezialisierten, sich verändernden Lernbereich oder beruflichen Tätigkeitsfeld\"\"?\nWerden Studierende durch eine Vorlesung hierzu befähigt?\nIch habe meine Zweifel.\nGut, es gibt auch noch Seminare oder (manchmal) Projektarbeiten.\nReichen diese aus?\nOhne fachliche Grundlagen können Seminare und Projektarbeiten etwas, nun ja, zäh werden.\n\nÜbrigens, der Satz mit den Kompetenzen ist nicht von mir.\nEr schreibt das [[Niveau 5 des Deutschen Qualifikationsrahmens|https://www.dqr.de/content/2335.php]], das unter dem eines Bachelorabschlusses liegt.\n\nWie wäre es, wenn Studieren wieder das werden würde, was das Wort \"\"studere\"\" im Lateinischen ursprünglich bedeutet: sich (selbständig) um Erkenntnis bemühen.\nWie wäre es, wenn das Studieren selbstbestimmt wäre, in einer Gruppe erfolgen könnte und man recht schnell Rückmeldungen über den Lernerfolg bekommt?\n\nDer einfache Weg wäre, das Betreuungsverhältnis drastisch zu ändern.\nZum Beispiel auf 1 (Professor) : 4 (Studierende). Das ist allerdings weder aktuell bezahlbar noch praktikabel.\n\n=== Studieren, aber agil\nEin anderer Weg wäre die Einführung eines agilen Vorgehens.\nAspekte wie Wachsamkeit, Änderungswille, Reaktionsvermögen und Optimierung, immer in Hinblick auf ein Ziel, sind sicher allgemein akzeptierte Komponenten eines solchen Vorgehens.\nZeitnahe, ggf. individuelle Rückmeldungen sind die logische Folge des Zusammenspiels dieser Komponenten.\n\nWie kann eine agile Vorlesung aussehen?\n\nEinige meiner Kollegen aus dem [[Studiengang Wirtschaftsinformatik|https://www.hs-heilbronn.de/win/]] der Hochschule Heilbronn und ich sind dieser Frage nachgegangen.\nWir bieten für unsere Studierenden ein praxisnahes Studium an, bei dem theoretische Grundlagen nicht zu kurz kommen.\nDer praktische Teil besteht aus einem Praxissemester in einem Unternehmen, einigen Seminaren und, als Besonderheit, aus einer Vielzahl von Projektstudien.\nIn diesen Projektstudien werden Probleme gemeinsam in Team bearbeitet, häufig in Kooperation mit Unternehmen.\nIn den von mir veranstalteten Projektstudien kommt etwas ähnliches wie [[Scrum|https://www.scrum.org/]] zum Einsatz.\n\nWas liegt also näher, als Vorlesungen auf einer vergleichbaren Basis durchzuführen?\nBeispiele aus anderen Bereich gibt es genug, hier ausreichend beschrieben.\n[[eduScrum|https://eduscrum.org/]] ist sicher ein Leuchtturmprojekt zum Lernen auf Basis von Scrum in Schulen.\n\nWir setzen [[Agiles Studieren|https://agiles-studieren.de/]] aktuell in eher grundlagenorientierten Fächern ein, und zwar konkret im 2. und 3. Semester.\n\nAnalog zu Scrum setzen wir auf ein iterativ, inkrementelles Vorgehen mit einem festen Intervall.\nDie Länge eines Sprints, wir übersetzen diesen Begriff in unserem Kontext mit __Lernphase__, dauert 2 Wochen.\nIm Unterschied zu einem Softwareprojekt ist beim agilen Studieren der Product Backlog definiert.\nEr enthält eine Reihe von __Lernthemen__, die im Laufe des Semesters zu bearbeiten sind.\n\nZu Beginn einer Lernphase sollten sich die Gruppen überlegen, welche Themen sie auf welche Art und Weise bearbeiten sollen.\nBei Scrum heißt das Sprint Planning.\nBei den meisten Themen entscheidet die Gruppe, dass diese nur von einem Gruppenmitglied bearbeitet werden.\nDie Ergebnisse werden der Gruppe vorgestellt.\nAndere Themen können entsprechend nur von einigen, z.B. paarweise, bearbeitet werden, oder gar von allen Gruppenmitgliedern.\n\nBeim Planen und späteren Bearbeiten werden die Gruppen durch die Professoren, ggf. auch durch Tutoren, aktiv betreut.\nDabei werden Details zu den Themen gegeben oder auch Bearbeitungsideen / -ergebnisse diskutiert, ohne eine Lösung vorweg zu nehmen.\nEin Thema gilt dann als bearbeitet, wenn eine Lösung dokumentiert wurde und eine genügend große Anzahl der Gruppenmitglieder dieser Lösung explizit zustimmt.\nIn Scrum heißt dies Definition of Done.\n\nZum Ende einer Lernphase werden die Ergebnisse begutachtet, in Scrum Review genannt.\nWährend ich als Professor während einer normalen Vorlesung die meiste Zeit in Präsenzterminen und ggf. in Sprechstunden verbringe, ist das Bewerten der Lösungen zeitlich gesehen der umfangreichste Teil der Veranstaltung.\nIm Unterschied zu einer Klausurbewertung vergebe ich nicht nur Punkte / Noten, sondern gebe bei weniger angemessenen Lösungen eine inhaltliche Rückmeldung.\n\nVor Beginn der nächsten Lernphase können die Studierenden meine Rückmeldungen lesen, ggf. nachfragen und sich überlegen, wie sie erfolgreicher werden können (Retrospektive).\nDann beginnt der Zyklus von vorn.\nPro Semester sind 7-8 Lernphasen möglich.\n\nInsgesamt werden durch das agile Studieren die vier oben angesprochenen Defizite ausgeglichen.\nDie Studierenden erhalten spätestens nach zwei Wochen eine inhaltliche Rückmeldung.\nDie Studierenden bestimmen Lerntempo und -reihenfolge.\nDie Studierenden arbeiten in Gruppen und erhalten durch ihre Gruppenmitglieder zusätzliche Rückmeldungen.\n\n=== Erkenntnisse\nAuch beim agilen Studieren ist nicht alles Gold was glänzt.\nZum Beispiel ist die Gruppeneinteilung essentiell für den Lernerfolg.\nEs gibt Gruppen, deren Mitglieder sich gegenseitig nach vorne pushen.\nSobald aber eine Gruppe zu viele wenig motivierte Teilnehmer enthält, manchmal reichen ein oder zwei, dann kann die Gruppe in einen Teufelskreis geraten.\nDieser Themenkomplex wird aktuell durch eine von mir betreute Abschlussarbeit bearbeitet.\n\nFür manche Veranstaltungen scheint agiles Studieren nicht so gut geeignet zu sein.\nIm Fach Statistik hatten die Studierende erhebliche Schwierigkeiten mit diesem Vorgehen.\nWir haben in Fächern zum Thema Projektmanagement oder betriebliche Informationssysteme dagegen gute Erfahrungen gemacht.\nWir vermuten als möglichen Grund die relativ starke inhaltliche Abhängigkeit von Lernthemen im Fach Statistik.\nEine gleichzeitige Bearbeitung von Themen durch mehrere Gruppenmitglieder ist dann kaum möglich.\nHier besitzt ein Modell wie \"\"Inverted Classroom\"\" vermutlich Vorteile.\nNicht ohne Grund wird es häufig für mathematische Fächer eingesetzt.\n\nWährend extrovertierte Menschen eher in Vorlesungen Probleme haben, besitzen klassische Gruppenarbeiten für viele introvertierte Menschen Nachteile.\nDurch die Flexibilität bei der Gruppenarbeit (im Extremfall: jeder arbeitet alleine und stellt den anderen die Ergebnisse vor) bietet agiles Studieren beiden Typen Entfaltungsmöglichkeiten.\n\nDamit die Ergebnisse einer Themenbearbeitung bewertet werden können, müssen diese nachvollziehbar dokumentiert werden.\nDas gilt auch für die Zustimmung der anderen Gruppenmitglieder.\nIm Studium gibt es eher selten Klassenverbände und feste Räumlichkeiten.\nIm Gegenteil, viele Studierende bearbeiten die Themen an ganz anderen Orten, z.B. zu Hause oder im Café.\nDaher ist eine ordentliche Dokumentation Pflicht.\nWir erreichen dies durch die Verwendung einer Projektmanagementsoftware.\nDiese ist zwar nicht optimal geeignet, aber besser als eine Zettelwirtschaft.\nAktuell befindet sich eine optimierte Software zur Unterstützung in Entwicklung.\n\nDer Zwang zu einer eher schriftlichen Dokumentation der Ergebnisse bietet aber einen Vorteil, denn so müssen die Studierenden Kompetenzen entwickeln, um \"\"komplexe Sachverhalte strukturiert, zielgerichtet und adressatenbezogen darstellen\"\" (wieder aus dem Deutschen Qualifikationsrahmen).\n\nEine weitere Erkenntnis ist eher grundlegender Natur.\nWurde in den ersten Semestern tatsächlich an Scrum orientiert gearbeitet (wir setzen agiles Studieren seit 2014 ein), so ist in letzter Zeit ein Wechsel zu einem Kanban-orientiertem Vorgehen zu beobachten.\nAuch hier gibt es Aktivitäten, dieses Phänomen näher zu untersuchen, sogar gefördert durch die [[Studienkommission für Hochschuldidaktik an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg|https://hochschuldidaktik.net/]].\n\nEine häufig gestellte Frage ist die nach den Klausurergebnissen.\nSind die Noten besser geworden?\nDiese Frage lässt sich nicht beantworten.\nVon der Statistik her sind unsere Fallzahlen viel zu gering.\nDurch das agile Studieren erhalten die Studierenden frühzeitig Rückmeldung, das sie verwenden, um sich evtl. doch nicht zur Klausur anzumelden und ein Semester länger zu lernen.\nEs gibt eine Korrelation zwischen erfolgreich bearbeiteten Themen und Note in der Klausur, aber Korrelation bedeutet nicht Kausalität.\n\nDie positiven Ergebnisse sind anderweitig sichtbar.\nWährend die Fachkompetenz nicht gelitten hat, können wir eine Verbesserung der persönlichen Kompetenzen (Sozialkompetenz, Selbständigkeit) feststellen.\nSelbst- und Fremdbild weichen weniger voneinander ab, das Selbstvertrauen ist damit gestiegen.\nDie Studierenden sind in der Lage, leistungsschwächere Kommilitonen anzuleiten.\n\n=== Zukunft\nAgiles Studieren ist ein Modell für das Studieren, das manche Vorlesungen ablösen kann.\nStudierende kümmern sich selbständig um ihr Lernen, können Lerntempo und -reihenfolge selbst bestimmen, erhalten Rückmeldungen über den Lernerfolg und lernen in Gruppen zu arbeiten.\nDie so erworbenen Fähigkeiten sind Grundlage für einen Studienerfolg und reichen darüber hinaus.\n\nAgiles Studieren kann aber auch als Ansatz zur beruflichen Fortbildung dienen.\nWarum müssen manche Fortbildungen im zeitlichen Blöcken konzentriert werden, manchmal mit Frontalunterricht?\nEin agiles Lernen kann zeitlich entkoppelt werden, mit zügigen Rückmeldungen, abteilungs- oder gar unternehmensübergreifend.\nDas kann eher informell nach der Methode [[Working Out Loud|https://www.workingoutloud.com/]] erfolgen oder auch analog zum agilen Studieren mit expliziten Lehrenden, einer Rollenverteilung nach agilem Vorbild und angemessener Unterstützung.\n\nDetails zum Agilen Studieren veröffentlichen wir unter [[https://agiles-studieren.de/]]."))