(zettel (meta (author "Detlef Stern") (back "20240221155500") (backward "20231123153200 20240221155500") (box-number "1") (created "20231116183903") (folge "20231123153200") (modified "20240221165613") (precursor "20210814180000") (published "20240221165613") (role "post") (syntax "zmk") (tags "#bericht") (title "Retrospektive Wintersemester 2022/3") (visibility "public")) (rights 4) (encoding "") (content "Nach einigen Semestern der mehr oder minder intensiven Notfallonlinelehre sah es nach einem normalen Semester aus.\nAber was ist in diesen Zeiten noch normal?\n\nKurz vor Vorlesungsbeginn meldete sich der Studiengangsleiter mit der Information, dass sich einige Studierende bei ihm über die Prüfung beschwert\nhätten und noch einige mehr beim Dekan.\nOb man sich dazu einmal besprechen könnte.\nTatsächlich war die Klausur nicht gut ausgefallen, bei einer Bestehensquote von 20 %.\nDie Studierenden beschwerten sich über die angeblich zu schwere (Open-Book-) Klausur, wie auch über die Lehr-/Lernform \"\"Agiles Studieren\"\".\n\nIn Vorbereitung zu den Gesprächen mit beiden Verantwortlichen habe ich mir die Klausurfragen, wie auch die Ergebnisse der einzelnen Gruppen während des Semesters noch einmal angesehen.\nIn der ersten Aufgabe ging es darum, einen kleinen Projektstrukturplan zu erstellen.\nDas wurde während des Semesters geübt.\nDie zweite Aufgabe bezog sich auf das im Präsenztermin im Detail besprochene und während des Semesters geübte Arbeiten mit der Fertigstellungswertanalyse.\nEs musste dort nicht einmal gerechnet, sondern nur erläutert werden, wie man damit Rückschlüsse auf das Terminmanagement ziehen kann.\nIn der dritten Aufgabe sollte Inhalt, Bedeutung und Verwendung einer RACI-Matrix erläutert werden.\nAuch das im Präsenztermin besprochen und im Semester geübt.\nDie vierte Aufgabe bezog sich aufs das Kommunikationsmanagement bei Kundenprojekten, im Detail vorgestellt in einem Gastvortrag.\nDiesen haben wir im Anschluss besprochen und ich wies auf diese offensichtliche Aufgabe hin.\nDie fünfte und letzte Aufgabe hatte ich schon in den vorhergehenden drei Semestern gestellt, leicht abgewandelt.\nDie Studierenden sollten vier unterschiedliche Beispiele zu Risiken geben, diesmal zum Integrationsmanagement bei der Entwicklung von Software.\nNatürlich habe ich angekündigt, dass es solch eine Aufgabe recht wahrscheinlich geben könnte.\nSie wurde im Semester geübt und war somit Teil des persönlichen Risikomanagements der Studierenden für diese Klausur.\n\nIm Gespräch mit den beiden stimmten diese zu, dass die Prüfung nicht zu schwer war.\nEiner traute sich zu, die Klausur ohne weitere Vorbereitung wenigstens bestehen zu können.\nDie Prüfungsform der Open-Book-Klausur wurde etwas kritisch gesehen.\nWir waren einhellig der Meinung, dass diese eher nicht im ersten Semester verwendet werden sollte, man aber irgendwann damit anfange müsse, Zusammenhänge zu prüfen.\nFür das reine Faktenwissen nutzt man sowieso in der Praxis Suchmaschinen oder ähnliches.\n\nDa zusätzlich mehr als 170 Studierende für dieses Fach im Wintersemester 2022/3 die Prüfung ablegen könnten, entschieden wir uns für einige Maßnahmen.\nSollte die Anzahl der teilnehmenden Studierenden zu Beginn des Semester jenseits von 70 liegen (der maximalen Größe des verfügbaren Veranstaltungsraumes), dann wird die Veranstaltung aufgeteilt.\nDafür habe ich einen Lehrbeauftragten gesucht.\nDa es bei jeder (!) Lehrform Gewinner und Verlierer gibt, egal was man als Dozent probiert, soll der Lehrbeauftragte eher \"\"klassisch\"\" unterrichten, also per Vorlesung mit Übungen.\nDessen Klausur wird auch eine in der alten Form sein, also aus Auswendiglernaufgaben bestehen, neben eher wenigen Verständnisfragen.\nDamit diejenigen, die am Agilen Studieren teilnehmen, wirklich auch die Themen bearbeiten, die auf das tiefere Verständnis abzielen, sollte es für das erfolgreiche Bearbeiten dieser Themen während es Semesters für die Klausur Zusatzpunkte geben.\nDas würde der Prüfungsausschuss mutmaßlich genehmigen.\n\n=== Vorlesungsbeginn\n\nZu Beginn der Vorlesungszeit war der Lehrbeauftragte noch nicht gefunden.\nDafür nahmen mehr als 77 Studierende am ersten Präsenztermin teil.\nIch stellte den Plan vor, den ich mit dem Studiengangleiter und dem Dekan abgestimmt habe.\nEinige der Beschwerdeführer waren offenbar anwesend.\nSeitens der anwesenden Studierenden gab es keine Ablehnung zu dem Plan.\nSobald der Lehrbeauftragte gefunden war und seine Tätigkeit aufnehmen können, würden die Studierenden nach einem einfachen Kriterium aufgeteilt werden: wer in der Prüfung mindestens einen Fehlversuch hatte, würde vom Lehrbeauftragten unterrichtet und muss die von ihm entworfene Klausur bestehen.\nWer noch ohne (offiziellen) Fehlversuch war, nimmt am Agilen Studieren teil und wird mit einer Open-Book-Klausur geprüft.\n\nEine Woche später beschloss der Prüfungsausschuss auch die Regelung mit den Zusatzpunkten.\nAllerdings dürfen dann nur diejenigen an der Prüfung teilnehmen, die eine zu definierende Mindestzahl an Zusatzpunkten erreicht haben.\nIch hatte 15 Zusatzpunkte eingeplant, jeweils maximal 3 Zusatzpunkte für 5 Themen.\nAlso mussten die Studierenden mindestens in der Hälfte der Themen mindestens einen Zusatzpunkt erwerben, also drei Zusatzpunkte insgesamt.\nAuch dies war für die teilnehmenden Studierenden, bei zweiten Termin waren es mehr als 85, akzeptabel.\n\n=== Gruppeneinteilung\n\nDa es zwar recht wahrscheinlich war, einen Lehrbeauftragten zu finden, es aber offen war, wann dieser loslegen könnte, wurden zunächst alle anwesenden Studierenden in eine Gruppe für das Agile Studieren eingeteilt.\n45 Studierende in drei (großen) Gruppen würden später vom Lehrbeauftragten unterrichtet werden.\nSechs Gruppen mit jeweils sieben bis acht Studierenden würden das Semester am Agilen Studieren teilnehmen, später kamen noch zwei weitere Gruppen mit Nachzüglern dazu.\n\nWer mitrechnet, kommt nicht auf das Maximum von 170 Studierenden, welche diese Prüfung noch offen hatten.\nAn der Prüfung nahmen knapp 110 Studierende teil.\nWas die restlichen 60 Studierenden für Pläne hatten, ist mir nicht bekannt.\nEtwa 20 hatten mutmaßlich vor, an der Prüfung teilzunehmen.\nBleiben noch 40.\nNun ja.\n\n=== Die ersten Wochen\n\nZunächst dauerte es, bis wir einen Lehrbeauftragten gefunden haben.\nUnd als dann [[Heinrich Kümmerle|https://kuemmerle.name]] zusagte, dauerte es noch aus internen Gründen etwas, bis er loslegen konnte.\n\nIn dieser Zwischenzeit betreute ich alle neun, dann zehn und später elf Gruppen.\nDie großen Gruppen mit denjenigen, die später nicht mehr bei mir teilnehmen würden, schlugen sich erstaunlich gut.\nGerade bei den Themen, die zu Beginn zu bearbeiten sind, müssen alle Gruppenmitglieder zustimmen.\nDas hat gut geklappt.\n\nSo vergingen die ersten zwei Studienphasen.\n\nTrotzdem waren wir alle froh, als Heinrich Kümmerle mit seinem Unterricht beginnen konnte.\nPermanent 70--80 Studierende in einem Raum, der für bestenfalls 70 eingerichtet ist, macht nicht viel Spaß.\nSelbst eine (gruppen-) individuelle Betreuung ist so kaum möglich.\n\n=== Cyberanfall\n\nTja, und kaum war die Veranstaltung aufgeteilt und der erste Unterricht im kleineren Rahmen durchgeführt, da wurden die IT-Systeme der Hochschule angegriffen.\nDie Maßnahme, die Hochschule vom Internet zu nehmen, bewahrte vor größeren Schaden.\nMit der Konsequenz, dass man nun vom Homeoffice weder auf Vorlesungsunterlagen zugreifen konnte, noch dass die Software zum Agilen Studieren dort nutzbar war.\nDas betraf sowohl Studierende, auch uns als Dozenten.\n\nFür Heinrich Kümmerle war das nicht zu problematisch, da man bei einer Vorlesung sowieso besser anwesend sein sollte, besonders wenn man mindestens\neinen Fehlversuch im Fach aufzuweisen hatte.\n\nAber auch die Studierenden, die bei mir am Agilen Studieren teilnahmen, hatten nach wenigen Wochen einen Weg gefunden, die Themen halbwegs gemeinsam\nonline bearbeiten zu können.\nSie trafen sich in der benachbarten Bibliothek. Da deren Anzahl an Arbeitsplätzen begrenzt ist, waren immer nicht alle Gruppenmitglieder zum Präsenztermin bei mir in der Lehrveranstaltung im Raum.\nEin, zwei reservierten schon mal die dann nötigen Arbeitsplätze, um von der Bibliothek aus in den Weiten des Internets nach Lösungsideen zu suchen.\n\n=== Arbeiten im Semester\n\nDie nun neue Normalität sah pro Woche meistens so aus, dass ich mich am Montag mit Heinrich Kümmerle traf und wir seine Fragen über das Themenfeld\nbesprachen, dass er am Dienstag vorstellen wollte.\nIm Unterschied zu mir hat er Pädagogik studiert und im früheren Leben auch an wesentlich umfangreicheren Projekten mehr oder minder leitend (leidend?) teilgenommen.\nBei mir lag und liegt der Fokus eher auf IT-nahen Projekten und auf methodischer Klarheit.\nSo waren unsere Gespräche sehr interessant.\n\nDienstags klönten wir kurz miteinander, bevor wir in unsere jeweiligen Veranstaltungsräume gingen und unterschiedlich unterrichteten.\nDanach trafen wir uns zum Debriefing bei etwas Espresso.\nAlle 14 Tage war ich Freitags, eher selten Montags, in der Hochschule unterwegs, um die Lösungsvorschläge der Studierenden zu bewerten, damit ich ihnen am kommenden Dienstag Rückmeldung geben konnte.\n\nAuch bei mir arbeiteten die Studierenden recht gut mit.\nMehr als die Hälfte der Gruppen war sehr engagiert, im Unterschied zu früheren Semestern.\nAber natürlich gab es auch Gruppen, deren Mitglieder man ab einem Zeitpunkt nie mehr sah.\nSoweit so normal.\n\n=== Klausur\n\nKaum näherte sich die Prüfungszeit, so wurde es auf andere Weise interessant.\nHeinrich Kümmerle nahm sich meine letzte Klausur als Vorbild, als ich noch nicht auf Open-Book als erlaubtes Hilfsmittel setzte.\nHeraus kam, wie geplant und gewünscht, eine Klausur mit grob 25 kleineren Aufgaben, von denen jede in wenigen Minuten zu bearbeiten war.\n\nDie von mir gestellte Klausur bestand wieder aus fünf Aufgaben, die in 15--20 Minuten zu bearbeiten waren.\nWieder mit der Aufgabe aus dem Risikomanagement, wieder mit Aufgaben, die während des Semesters besprochen wurden und die geübt werden konnten.\nAls Heinrich Kümmerle meine Klausur sah, bezweifelte er, ob \"\"seine\"\" Studierenden diese lösen könnten, da sie während der Vorlesungszeit auf wesentlich einfachere Aspekte des Projektmanagements eingegangen waren.\n\nDurch unsere Gespräche während der Vorlesungszeit, und auch vorher, ich kenne ihn schon länger, war mir klar, dass wir beide vergleichbare Maßstäbe an die\nBewertung von Lösungsvorschlägen haben.\nWir beide bewerten durchaus kritisch, aber im Zweifelsfall zu Gunsten der Prüflinge.\n\nUnd was kam nun als Ergebnis heraus?\n\nFür manche überraschend waren die Noten in beiden Klausuren im Durchschnitt fast gleich.\nDas gilt auch für die Bestehensquote von knapp 80 %.\nEinziger Unterschied: dank der Zusatzpunkte gab es in der von mir gestellten Klausur jemand mit 96 (von maximal 90) Punkten.\nNeben dieser Person gab es noch jemanden mit der Note 1,0.\nMathematisch ausgedrückt, war die Standardabweichung etwas größer, erklärbar.\nAlle anderen Unterschiede sind von statistischem Rauschen nicht zu unterscheiden.\n\nNatürlich darf man nicht vergessen, dass die Ergebnisse der von mir gestellten Klausur auch durch die Vergabe der Zusatzpunkte beeinflusst ist.\nIm Durchschnitt wurden sieben bis acht (von maximal 15) Zusatzpunkte erreicht.\nDas entspricht einer Verbesserung des Ergebnisses von ein bis zwei Teilnoten.\nAlso eine Note 2,3 (2-) anstelle der Note 2,7 (3+) oder 3,0.\nDies beeinflusste aber kaum das eigentliche Bestehen der Prüfung.\nDie nachgewiesenen Kompetenzen sind definitiv größer als bei der anderen Klausur.\n\n=== Lektion\n\nWas nehme ich an Erkenntnissen für meine Lehre in den kommenden Semestern mit?\nDas mit den Zusatzpunkten war keine schlechte Idee.\nDie sollte ich im nächsten Semester weiter überprüfen.\nSofern dem der Prüfungsausschuss zustimmt.\nDie Sprache der Studierenden ist ja leider häufig nicht die, dass man etwas gelernt hat, sondern dass man bestanden hat.\nInsofern könnten die Zusatzpunkte etwas extrinsische Motivation sein, sich auch einmal mit Zusammenhängen zu beschäftigen.\nFür reines Faktenwissen (\"\"Geben Sie ein Beispiel für ein unbekannt-unbekanntes Risiko an\"\") gibt es jetzt schon IT-Systeme, die das sprachlich eloquent formulieren können und von manchen als künstliche Intelligenz angesehen werden.\n\nDer Vorwurf der Beschwerdeführer, die Klausur sei wegen der Lehr-/Lernform und/oder wegen der Prüfungsform als Open-Book-Klausur zu schwer, kann\nich immer noch nicht nachvollziehen.\nUnabhängig von der Lehrform und der Prüfungsform gab es dieses Semester wesentlich bessere Ergebnisse.\nUnd nein, beide Prüfer haben nicht nachsichtiger als ich in den letzten Semestern bewertet.\nEs gab bei uns beiden auch kein __Training to the test__, d.h. wir haben nicht die Klausur an sich geübt, noch deren tatsächliche, konkrete\nAufgaben.\nWir haben versucht, die allgemeinen Inhalte des Faches zu lehren, wie es sich gehört.\n\nDa ich nicht weiß, wie intensiv in früheren Semestern im Unterschied zu diesem Semester gelernt und für die Klausur vorbereitet wurde, könnte ich zu\nden gravierenden Unterschieden höchstens Mutmaßungen aufstellen.\nAnsonsten sehe ich keine Unterschiede zu früheren Semestern.\nAuch früher wurden die Gruppen grob nach der Anzahl der Fehlversuche aufgeteilt, Klausuraufgaben waren sehr ähnlich, mich als Person sehe ich wenig geändert.\nWas übersehe ich?\n\nVielleicht gibt es eine Rückmeldung seitens derjenigen, die sich vor der Vorlesungszeit beschwerten.\nOder ist meine Mutmaßung doch korrekt?\n\n=== Ausblick\n\nWie üblich ist nach dem Semester zugleich vor dem Semester.\nDa viele das Studium der Wirtschaftsinformatik (zu recht) für relevant halten, gibt es wieder potentiell viele, die auch im Sommersemester das Fach studieren.\nStatt 170 Studierende sind es nun nur noch etwa 140.\nGrob sind es die fehlenden 40, 20 mit Fehlversuch und 80 neue Studierende.\nNetterweise hat sich Heinrich Kümmerle bereit erklärt, wieder als Lehrbeauftragter zur Verfügung zu stehen.\n\nWie wir dann aufteilen, das ist mir noch nicht klar.\nDas hängt auch davon ab, wie viele mit welchem Vorwissen an der Veranstaltung teilnehmen wollen.\nEs könnte wieder eine Aufteilung nach Fehlversuchen geben, oder eine nach Studiendauer.\nOder etwas anderes.\nDa müssen wir auf die jeweilige Nachfrage angemessen reagieren.\n\nDie Zusatzpunkte werde ich wieder beim Prüfungsausschuss beantragen.\nHeinrich Kümmerle hat mir auch schon einige Änderungen angedeutet, etwa eine semesterbegleitende Fallstudie.\n\nUnd vielleicht gibt es im nächsten Semester doch mal so etwas wie Normalität.\nDas wäre nach den ganzen Ereignissen der letzten Jahre doch einmal etwas überraschend Anormales."))