Nach einigen Semestern der mehr oder minder intensiven Notfallonlinelehre sah es nach einem normalen Semester aus. Aber was ist in diesen Zeiten noch normal?
Kurz vor Vorlesungsbeginn meldete sich der Studiengangsleiter mit der Information, dass sich einige Studierende bei ihm über die Prüfung beschwert hätten und noch einige mehr beim Dekan. Ob man sich dazu einmal besprechen könnte. Tatsächlich war die Klausur nicht gut ausgefallen, bei einer Bestehensquote von 20 %. Die Studierenden beschwerten sich über die angeblich zu schwere (Open-Book-) Klausur, wie auch über die Lehr-/Lernform „Agiles Studieren“.
In Vorbereitung zu den Gesprächen mit beiden Verantwortlichen habe ich mir die Klausurfragen, wie auch die Ergebnisse der einzelnen Gruppen während des Semesters noch einmal angesehen. In der ersten Aufgabe ging es darum, einen kleinen Projektstrukturplan zu erstellen. Das wurde während des Semesters geübt. Die zweite Aufgabe bezog sich auf das im Präsenztermin im Detail besprochene und während des Semesters geübte Arbeiten mit der Fertigstellungswertanalyse. Es musste dort nicht einmal gerechnet, sondern nur erläutert werden, wie man damit Rückschlüsse auf das Terminmanagement ziehen kann. In der dritten Aufgabe sollte Inhalt, Bedeutung und Verwendung einer RACI-Matrix erläutert werden. Auch das im Präsenztermin besprochen und im Semester geübt. Die vierte Aufgabe bezog sich aufs das Kommunikationsmanagement bei Kundenprojekten, im Detail vorgestellt in einem Gastvortrag. Diesen haben wir im Anschluss besprochen und ich wies auf diese offensichtliche Aufgabe hin. Die fünfte und letzte Aufgabe hatte ich schon in den vorhergehenden drei Semestern gestellt, leicht abgewandelt. Die Studierenden sollten vier unterschiedliche Beispiele zu Risiken geben, diesmal zum Integrationsmanagement bei der Entwicklung von Software. Natürlich habe ich angekündigt, dass es solch eine Aufgabe recht wahrscheinlich geben könnte. Sie wurde im Semester geübt und war somit Teil des persönlichen Risikomanagements der Studierenden für diese Klausur.
Im Gespräch mit den beiden stimmten diese zu, dass die Prüfung nicht zu schwer war. Einer traute sich zu, die Klausur ohne weitere Vorbereitung wenigstens bestehen zu können. Die Prüfungsform der Open-Book-Klausur wurde etwas kritisch gesehen. Wir waren einhellig der Meinung, dass diese eher nicht im ersten Semester verwendet werden sollte, man aber irgendwann damit anfange müsse, Zusammenhänge zu prüfen. Für das reine Faktenwissen nutzt man sowieso in der Praxis Suchmaschinen oder ähnliches.
Da zusätzlich mehr als 170 Studierende für dieses Fach im Wintersemester 2022/3 die Prüfung ablegen könnten, entschieden wir uns für einige Maßnahmen. Sollte die Anzahl der teilnehmenden Studierenden zu Beginn des Semester jenseits von 70 liegen (der maximalen Größe des verfügbaren Veranstaltungsraumes), dann wird die Veranstaltung aufgeteilt. Dafür habe ich einen Lehrbeauftragten gesucht. Da es bei jeder (!) Lehrform Gewinner und Verlierer gibt, egal was man als Dozent probiert, soll der Lehrbeauftragte eher „klassisch“ unterrichten, also per Vorlesung mit Übungen. Dessen Klausur wird auch eine in der alten Form sein, also aus Auswendiglernaufgaben bestehen, neben eher wenigen Verständnisfragen. Damit diejenigen, die am Agilen Studieren teilnehmen, wirklich auch die Themen bearbeiten, die auf das tiefere Verständnis abzielen, sollte es für das erfolgreiche Bearbeiten dieser Themen während es Semesters für die Klausur Zusatzpunkte geben. Das würde der Prüfungsausschuss mutmaßlich genehmigen.
Zu Beginn der Vorlesungszeit war der Lehrbeauftragte noch nicht gefunden. Dafür nahmen mehr als 77 Studierende am ersten Präsenztermin teil. Ich stellte den Plan vor, den ich mit dem Studiengangleiter und dem Dekan abgestimmt habe. Einige der Beschwerdeführer waren offenbar anwesend. Seitens der anwesenden Studierenden gab es keine Ablehnung zu dem Plan. Sobald der Lehrbeauftragte gefunden war und seine Tätigkeit aufnehmen können, würden die Studierenden nach einem einfachen Kriterium aufgeteilt werden: wer in der Prüfung mindestens einen Fehlversuch hatte, würde vom Lehrbeauftragten unterrichtet und muss die von ihm entworfene Klausur bestehen. Wer noch ohne (offiziellen) Fehlversuch war, nimmt am Agilen Studieren teil und wird mit einer Open-Book-Klausur geprüft.
Eine Woche später beschloss der Prüfungsausschuss auch die Regelung mit den Zusatzpunkten. Allerdings dürfen dann nur diejenigen an der Prüfung teilnehmen, die eine zu definierende Mindestzahl an Zusatzpunkten erreicht haben. Ich hatte 15 Zusatzpunkte eingeplant, jeweils maximal 3 Zusatzpunkte für 5 Themen. Also mussten die Studierenden mindestens in der Hälfte der Themen mindestens einen Zusatzpunkt erwerben, also drei Zusatzpunkte insgesamt. Auch dies war für die teilnehmenden Studierenden, bei zweiten Termin waren es mehr als 85, akzeptabel.
Da es zwar recht wahrscheinlich war, einen Lehrbeauftragten zu finden, es aber offen war, wann dieser loslegen könnte, wurden zunächst alle anwesenden Studierenden in eine Gruppe für das Agile Studieren eingeteilt. 45 Studierende in drei (großen) Gruppen würden später vom Lehrbeauftragten unterrichtet werden. Sechs Gruppen mit jeweils sieben bis acht Studierenden würden das Semester am Agilen Studieren teilnehmen, später kamen noch zwei weitere Gruppen mit Nachzüglern dazu.
Wer mitrechnet, kommt nicht auf das Maximum von 170 Studierenden, welche diese Prüfung noch offen hatten. An der Prüfung nahmen knapp 110 Studierende teil. Was die restlichen 60 Studierenden für Pläne hatten, ist mir nicht bekannt. Etwa 20 hatten mutmaßlich vor, an der Prüfung teilzunehmen. Bleiben noch 40. Nun ja.
Zunächst dauerte es, bis wir einen Lehrbeauftragten gefunden haben. Und als dann Heinrich Kümmerle zusagte, dauerte es noch aus internen Gründen etwas, bis er loslegen konnte.
In dieser Zwischenzeit betreute ich alle neun, dann zehn und später elf Gruppen. Die großen Gruppen mit denjenigen, die später nicht mehr bei mir teilnehmen würden, schlugen sich erstaunlich gut. Gerade bei den Themen, die zu Beginn zu bearbeiten sind, müssen alle Gruppenmitglieder zustimmen. Das hat gut geklappt.
So vergingen die ersten zwei Studienphasen.
Trotzdem waren wir alle froh, als Heinrich Kümmerle mit seinem Unterricht beginnen konnte. Permanent 70–80 Studierende in einem Raum, der für bestenfalls 70 eingerichtet ist, macht nicht viel Spaß. Selbst eine (gruppen-) individuelle Betreuung ist so kaum möglich.
Tja, und kaum war die Veranstaltung aufgeteilt und der erste Unterricht im kleineren Rahmen durchgeführt, da wurden die IT-Systeme der Hochschule angegriffen. Die Maßnahme, die Hochschule vom Internet zu nehmen, bewahrte vor größeren Schaden. Mit der Konsequenz, dass man nun vom Homeoffice weder auf Vorlesungsunterlagen zugreifen konnte, noch dass die Software zum Agilen Studieren dort nutzbar war. Das betraf sowohl Studierende, auch uns als Dozenten.
Für Heinrich Kümmerle war das nicht zu problematisch, da man bei einer Vorlesung sowieso besser anwesend sein sollte, besonders wenn man mindestens einen Fehlversuch im Fach aufzuweisen hatte.
Aber auch die Studierenden, die bei mir am Agilen Studieren teilnahmen, hatten nach wenigen Wochen einen Weg gefunden, die Themen halbwegs gemeinsam online bearbeiten zu können. Sie trafen sich in der benachbarten Bibliothek. Da deren Anzahl an Arbeitsplätzen begrenzt ist, waren immer nicht alle Gruppenmitglieder zum Präsenztermin bei mir in der Lehrveranstaltung im Raum. Ein, zwei reservierten schon mal die dann nötigen Arbeitsplätze, um von der Bibliothek aus in den Weiten des Internets nach Lösungsideen zu suchen.
Die nun neue Normalität sah pro Woche meistens so aus, dass ich mich am Montag mit Heinrich Kümmerle traf und wir seine Fragen über das Themenfeld besprachen, dass er am Dienstag vorstellen wollte. Im Unterschied zu mir hat er Pädagogik studiert und im früheren Leben auch an wesentlich umfangreicheren Projekten mehr oder minder leitend (leidend?) teilgenommen. Bei mir lag und liegt der Fokus eher auf IT-nahen Projekten und auf methodischer Klarheit. So waren unsere Gespräche sehr interessant.
Dienstags klönten wir kurz miteinander, bevor wir in unsere jeweiligen Veranstaltungsräume gingen und unterschiedlich unterrichteten. Danach trafen wir uns zum Debriefing bei etwas Espresso. Alle 14 Tage war ich Freitags, eher selten Montags, in der Hochschule unterwegs, um die Lösungsvorschläge der Studierenden zu bewerten, damit ich ihnen am kommenden Dienstag Rückmeldung geben konnte.
Auch bei mir arbeiteten die Studierenden recht gut mit. Mehr als die Hälfte der Gruppen war sehr engagiert, im Unterschied zu früheren Semestern. Aber natürlich gab es auch Gruppen, deren Mitglieder man ab einem Zeitpunkt nie mehr sah. Soweit so normal.
Kaum näherte sich die Prüfungszeit, so wurde es auf andere Weise interessant. Heinrich Kümmerle nahm sich meine letzte Klausur als Vorbild, als ich noch nicht auf Open-Book als erlaubtes Hilfsmittel setzte. Heraus kam, wie geplant und gewünscht, eine Klausur mit grob 25 kleineren Aufgaben, von denen jede in wenigen Minuten zu bearbeiten war.
Die von mir gestellte Klausur bestand wieder aus fünf Aufgaben, die in 15–20 Minuten zu bearbeiten waren. Wieder mit der Aufgabe aus dem Risikomanagement, wieder mit Aufgaben, die während des Semesters besprochen wurden und die geübt werden konnten. Als Heinrich Kümmerle meine Klausur sah, bezweifelte er, ob „seine“ Studierenden diese lösen könnten, da sie während der Vorlesungszeit auf wesentlich einfachere Aspekte des Projektmanagements eingegangen waren.
Durch unsere Gespräche während der Vorlesungszeit, und auch vorher, ich kenne ihn schon länger, war mir klar, dass wir beide vergleichbare Maßstäbe an die Bewertung von Lösungsvorschlägen haben. Wir beide bewerten durchaus kritisch, aber im Zweifelsfall zu Gunsten der Prüflinge.
Und was kam nun als Ergebnis heraus?
Für manche überraschend waren die Noten in beiden Klausuren im Durchschnitt fast gleich. Das gilt auch für die Bestehensquote von knapp 80 %. Einziger Unterschied: dank der Zusatzpunkte gab es in der von mir gestellten Klausur jemand mit 96 (von maximal 90) Punkten. Neben dieser Person gab es noch jemanden mit der Note 1,0. Mathematisch ausgedrückt, war die Standardabweichung etwas größer, erklärbar. Alle anderen Unterschiede sind von statistischem Rauschen nicht zu unterscheiden.
Natürlich darf man nicht vergessen, dass die Ergebnisse der von mir gestellten Klausur auch durch die Vergabe der Zusatzpunkte beeinflusst ist. Im Durchschnitt wurden sieben bis acht (von maximal 15) Zusatzpunkte erreicht. Das entspricht einer Verbesserung des Ergebnisses von ein bis zwei Teilnoten. Also eine Note 2,3 (2-) anstelle der Note 2,7 (3+) oder 3,0. Dies beeinflusste aber kaum das eigentliche Bestehen der Prüfung. Die nachgewiesenen Kompetenzen sind definitiv größer als bei der anderen Klausur.
Was nehme ich an Erkenntnissen für meine Lehre in den kommenden Semestern mit? Das mit den Zusatzpunkten war keine schlechte Idee. Die sollte ich im nächsten Semester weiter überprüfen. Sofern dem der Prüfungsausschuss zustimmt. Die Sprache der Studierenden ist ja leider häufig nicht die, dass man etwas gelernt hat, sondern dass man bestanden hat. Insofern könnten die Zusatzpunkte etwas extrinsische Motivation sein, sich auch einmal mit Zusammenhängen zu beschäftigen. Für reines Faktenwissen („Geben Sie ein Beispiel für ein unbekannt-unbekanntes Risiko an“) gibt es jetzt schon IT-Systeme, die das sprachlich eloquent formulieren können und von manchen als künstliche Intelligenz angesehen werden.
Der Vorwurf der Beschwerdeführer, die Klausur sei wegen der Lehr-/Lernform und/oder wegen der Prüfungsform als Open-Book-Klausur zu schwer, kann ich immer noch nicht nachvollziehen. Unabhängig von der Lehrform und der Prüfungsform gab es dieses Semester wesentlich bessere Ergebnisse. Und nein, beide Prüfer haben nicht nachsichtiger als ich in den letzten Semestern bewertet. Es gab bei uns beiden auch kein Training to the test, d.h. wir haben nicht die Klausur an sich geübt, noch deren tatsächliche, konkrete Aufgaben. Wir haben versucht, die allgemeinen Inhalte des Faches zu lehren, wie es sich gehört.
Da ich nicht weiß, wie intensiv in früheren Semestern im Unterschied zu diesem Semester gelernt und für die Klausur vorbereitet wurde, könnte ich zu den gravierenden Unterschieden höchstens Mutmaßungen aufstellen. Ansonsten sehe ich keine Unterschiede zu früheren Semestern. Auch früher wurden die Gruppen grob nach der Anzahl der Fehlversuche aufgeteilt, Klausuraufgaben waren sehr ähnlich, mich als Person sehe ich wenig geändert. Was übersehe ich?
Vielleicht gibt es eine Rückmeldung seitens derjenigen, die sich vor der Vorlesungszeit beschwerten. Oder ist meine Mutmaßung doch korrekt?
Wie üblich ist nach dem Semester zugleich vor dem Semester. Da viele das Studium der Wirtschaftsinformatik (zu recht) für relevant halten, gibt es wieder potentiell viele, die auch im Sommersemester das Fach studieren. Statt 170 Studierende sind es nun nur noch etwa 140. Grob sind es die fehlenden 40, 20 mit Fehlversuch und 80 neue Studierende. Netterweise hat sich Heinrich Kümmerle bereit erklärt, wieder als Lehrbeauftragter zur Verfügung zu stehen.
Wie wir dann aufteilen, das ist mir noch nicht klar. Das hängt auch davon ab, wie viele mit welchem Vorwissen an der Veranstaltung teilnehmen wollen. Es könnte wieder eine Aufteilung nach Fehlversuchen geben, oder eine nach Studiendauer. Oder etwas anderes. Da müssen wir auf die jeweilige Nachfrage angemessen reagieren.
Die Zusatzpunkte werde ich wieder beim Prüfungsausschuss beantragen. Heinrich Kümmerle hat mir auch schon einige Änderungen angedeutet, etwa eine semesterbegleitende Fallstudie.
Und vielleicht gibt es im nächsten Semester doch mal so etwas wie Normalität. Das wäre nach den ganzen Ereignissen der letzten Jahre doch einmal etwas überraschend Anormales.